Ausgabe 2/2025, April

WIdO-Themen

Innovationsfondsprojekt ATME: Mehr als Beatmung

Zusammen mit dem aQua-Institut und der Hochschule Osnabrück hat das Wissenschaftliche Institut der AOK im Projekt ATME die Versorgung in der außerklinischen Intensivpflege in Deutschland erforscht. Das Ergebnis: Daten zu rund 18.500 AOK-Versicherten bestätigen die Vulnerabilität und Heterogenität dieser Patientengruppe.

Die außerklinische Intensivpflege (AKI) hat aufgrund des medizinischen und me­dizintechnischen Fortschritts, aber auch durch die demografische Veränderung unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahren an Relevanz gewonnen. Die wach­sende Gruppe der Betroffenen zeichnet sich durch ihre Vulnerabilität sowie eine hohe Komplexität der zugrunde liegenden Erkrankungsbilder und der Versorgung aus. Erforderlich ist unter anderem die ständige Anwesenheit von qualifiziertem Pflegepersonal.

Die Rahmenbedingungen der AKI wurden durch das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (GKV-IPReG) aus dem Jahr 2020 sowie die da­rauf basierende Richtlinie (AKI-RL) neu geregelt. Das Projekt ATME hatte eine Laufzeit von zwei Jahren, in denen erst­malig in diesem Umfang die Versorgungs­strukturen und Krankheitsverläufe von beatmeten und tracheotomierten Men­schen mit außerklinischer Intensivpfle­ge analysiert wurden. Das Projekt leistet damit einen wichtigen Beitrag zu mehr Transparenz über dieses Versorgungsseg­ment.

Es wird deutlich, dass die untersuch­te Bevölkerungsgruppe hinsichtlich Al­ter, Krankheitsbildern, Versorgungsfor­men und -verläufen äußerst heterogen ist. Die Bedarfe und Bedürfnisse der einzel­nen Untergruppen in der AKI-Versorgung unterscheiden sich erheblich. Beispiels­weise zeigen die Ergebnisse, dass bei Wei­tem nicht alle Menschen in der AKI be­atmet oder tracheotomiert sind. So sind Kinder und Jugendliche in der AKI mit 56 Prozent überwiegend nicht tracheoto­miert und beatmet, während der Anteil der so versorgten Patientinnen und Patienten in der Altersgruppe der 66- bis 85-Jährigen mit 93 Prozent am höchsten ist.

Unterschiede gibt es auch beim Versor­gungsort. Mehr als zwei Drittel der im Rah­men der AKI Versorgten leben zu Hause. Die anderen Patientinnen und Patienten verteilen sich etwa hälftig auf Wohnge­meinschaften und stationäre Einrichtun­gen, wobei der Anteil der Wohngemein­schaften über die Jahre zunimmt. Ent­scheidend für den Versorgungsort sind Art und Schwere der Erkrankung: Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchti­gungen leben häufiger in Gemeinschaftseinrichtungen, während Menschen mit (neuro-)muskulären Erkrankungen deut­lich häufiger zu Hause versorgt werden.

Dabei lässt sich eine deutliche Varianz bei den Krankheitsverläufen feststellen: Während ein erheblicher Anteil der Betrof­fenen (48 Prozent) innerhalb des ersten Jahres nach Beginn der außerklinischen Intensivpflege verstirbt, verbleibt fast je­der Dritte länger als fünf Jahre in dieser Versorgung

Qualitätssicherung: Hybride Qualitätsindikatoren

International und national werden Routinedaten aus der Krankenhaus-abrechnung zur Definition von Qualitätsindikatoren genutzt, um die stationäre Behandlungsqualität zu messen. Für den fairen Qualitätsvergleich von Kliniken ist eine Risikoadjustierung der Indikatoren unabdingbar, die Unterschiede im Fallmix der Kliniken berücksichtigt.  

Im Projekt „Hybrid-QI – Hybride Qualitätsindikatoren mittels Machine Learning-Methoden“ hat das WIdO untersucht, wie durch die Verknüpfung von administrativen und klinischen Daten hybride Qualitätsindikatoren gebildet werden können, wenn Risikofaktoren und Outcomes in den Routinedaten nicht direkt erfasst werden. 

Für vier stationäre Leistungen wurden AOK-Routinedaten und klinische Informationen auf Patientenebene zusammengeführt. Beim akuten Herzinfarkt und den schultergelenknahen Oberarmfrakturen konnten risikoadjustierte Qualitätsindikatoren definiert werden, die verfügbare klinische Informationen mittels Routinedaten näherungsweise bestimmen und keine zusätzlichen klinischen Datenfelder erfordern. Das ermöglicht eine Qualitätsmessung, die Dokumentationslasten in den Kliniken vermeidet. In der durch den Innovationsfonds geförderten Studie (Förderkennzeichen 01VSF20013) kooperierte das WIdO mit dem Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung des Universitätsklinikums Dresden und den Helios Kliniken.

Arzneimittelverbrauch: Wieder mehr Antibiotika

Der Antibiotikaverbrauch in Deutschland ist 2023 deutlich gestiegen: Mit 36,1 Millionen abgegebenen Packungen wurden 18,4 Prozent mehr als 2022 und 6,1 Prozent mehr als im Vor-Corona-Jahr 2019 verordnet.

Besonders besorgniserregend ist der Anstieg bei den Reserveantibiotika: Die Zahl der Verordnungen lag 2023 mit 15,7 Millionen Verordnungen um 21 Prozent höher als im Vorjahr. Reserveantibiotika sind Medikamente, für die eine strenge Indikation vorgesehen ist. Um ihre Wirksamkeit zu erhalten und die Entstehung von Resistenzen zu vermeiden, sollen sie nur eingesetzt werden, wenn herkömmliche Antibiotika nicht wirksam sind.

Im Jahr 2023 wurden in Deutschland 275 Verordnungen von Standardantibiotika und 211 Verordnungen von Reserveantika  je 1.000 Versicherte abgerechnet. Eine Analyse der Verordnungen innerhalb der Kassenärztlichen Vereinigungen weist beachtliche regionale Unterschiede auf. Während der Verbrauch in der Humanmedizin steigt, bleibt der Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung rückläufig. Seit 2014 sank er um 57,3 Prozent.

Es fehlt an neuen antibiotischen Wirkstoffen. Im Jahr 2023 wurde kein einziges neues Antibiotikum in den Markt eingeführt, in den vergangenen zehn Jahren lediglich acht. Finanzielle Anreize sollen Forschung fördern, doch die Pipeline bleibt ausgetrocknet. Experten warnen: Ohne neue Medikamente und ohne einen zurückhaltenden Einsatz drohen dramatische Folgen durch Resistenzen. Es gilt weiterhin, den verantwortungsvollen Umgang mit Antibiotika zu fördern und so Resistenzen zu vermeiden.

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Analysen – Schwerpunkt: Herausforderungen der 21. Legislaturperiode

Versorgungs- und Vergütungsstrukturen im Wandel

Jonas Schreyögg und Robert Messerle

Die Versorgungs- und Vergütungsstrukturen im deutschen Gesundheitswesen sind im Wandel. Mit der Einführung hybrider Diagnosis Related Groups (Hybrid-DRG) für sektorengleiche Leistungen und Vorhaltevergütungen für Krankenhäuser wurden in der vergangenen Legislaturperiode für zwei Bereiche der Versorgung neue Vergütungsstrukturen angestoßen, die mittelfristig auch zu Änderungen der Versorgungsstrukturen führen sollen. Wesentliche weitere gesundheitspolitische Baustellen verbleiben jedoch – wenn überhaupt – im Planungsstadium. Fehlende Versorgungsoptionen gehen einher mit unpassenden Vergütungsstrukturen. Um zukunftsfähige Strukturen zu erreichen, sind einige Hürden zu nehmen und sowohl neue Versorgungs- als auch Vergütungsoptionen auszugestalten.

Nachhaltige Finanzierung der Pflege - nur mit Kapitaldeckung

Friedrich Breyer

Anders als von ihren Gründern erwartet, sind die Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung in den vergangenen zehn Jahren dramatisch gestiegen, weil die Leistungen stark ausgeweitet wurden und die altersspezifischen Pflegequoten nicht etwa sinken, sondern weiterhin steigen. Wenn nicht gegengesteuert wird, wird die Alterung der Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten einen weiteren Ausgabenanstieg bewirken, der eine Verdopplung des Beitragssatzes bis 2050 nach sich ziehen wird. Diese Entwicklung, die einen gravierenden Generationenkonflikt auslösen wird, kann nur durch massive Kapitalbildung abgemildert werden, die der Babyboomer-Generation im Alter helfen wird, ihre Pflegekosten zu tragen. In diesem Beitrag werden verschiedene Formen der Kapitaldeckung daraufhin untersucht, in welchem Maße sie zu einer nachhaltigen Finanzierung von Pflegeleistungen beitragen können. Zum einen werden freiwillige und obligatorische private Zusatzversicherungen diskutiert, zum anderen Kapitalbildung innerhalb der sozialen Pflegeversicherung. Es wird gezeigt, warum der 2015 gegründete Pflegevorsorgefonds gescheitert ist, und es wird ein Weg aufgezeigt, wie er so reformiert werden kann, dass er das Nachhaltigkeitsproblem löst.

Pflegefinanzierung: zentrale Herausforderungen und Lösungsoptionen

Heinz Rothgang

Ein doppeltes Finanzierungsproblem kennzeichnet die Pflegeversicherung heute: Erstens sind die Eigenanteile der Pflegebedürftigen deutlich zu hoch und würden ohne Politikreformen noch weiterwachsen; zweitens drohen weitere Beitragssatzsteigerungen, insbesondere wenn die Eigenanteile zulasten der Sozialversicherung reduziert und begrenzt werden. Dem lässt sich durch eine doppelte Reform entgegentreten. Zum einen kann eine Vollversicherung der Pflegekosten oder zumindest ein Sockel-Spitze-Tausch, der die Eigenanteile nachhaltig begrenzt, die Eigenanteilsproblematik lösen. Zum anderen können die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, die Verbeitragung aller Einkommensarten und ein Finanzausgleich zwischen sozialer Pflegeversicherung und privater Pflegepflichtversicherung dafür sorgen, dass der Beitragssatz nicht erhöht wird. Werden dem System zudem Steuermittel zur Kompensation der Aufwendungen für allgemeine Staatsausgaben zugeführt, kann die Beitragssatzentwicklung sogar unter die des Status quo gebracht werden.

Systembedingte Grenzen der GKV-Finanzierung überwinden

Stefan Sell

Im bestehenden System – unter der Nebenbedingung der international einmaligen Dualität des Krankenversicherungssystems mit einer privaten Krankenversicherung, in der sich ein Teil der einkommensstärkeren Personen der solidarischen Finanzierung entziehen kann – stößt die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) an mehrere systembedingte Grenzen. Dies muss im Kontext der Ausgabendynamik und der Bedarfsentwicklung zu stark steigenden Beiträgen führen, was dann als Lohnnebenkosten problematisiert wird. Zugleich müssen aus den – wegen der Bemessungsgrenze für Lohneinkommen nach oben gedeckelten – Beiträgen aufgrund der Verschiebebahnhöfe zahlreiche sogenannte versicherungsfremde Leistungen finanziert werden, die an sich aus Steuermitteln zu tragen wären. Vor diesem Hintergrund wird für eine systematisch abgesicherte Ausweisung der über Steuermittel zu finanzierenden Leistungen und für eine nachhaltige Regelbindung des Steueranteils plädiert. Das kann einen Teil des Drucks von der Beitragsfinanzierung nehmen und lässt sich verteilungspolitisch und volkswirtschaftlich begründen. Angeraten wird auch eine Perspektivenerweiterung hin zu den positiven externen Effekten der Ausgaben im Bereich der GKV.