Pflege-Report 2024
Ankunft der Babyboomer: Herausforderungen für die Pflege
Die Sicherstellung der Versorgung von Menschen mit Pflege- und Betreuungsbedarf wird eine der zentralen gesellschaftlichen Herausforderung in den kommenden Dekaden. Aufgrund der Babyboomer wird der Altenquotient in den nächsten zehn Jahren deutlich ansteigen. Die bereits heute angespannte Personallage wird sich erheblich verschärfen, Fragen nach der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, der Rolle von informeller Pflege und Ehrenamt werden zunehmend relevanter. Mit Blick auf das immer kleiner werdende Zeitfenster, in dem eine proaktive Gestaltung noch möglich ist, widmet sich der Pflege-Report, der jährlich in Buchform und als Open-Access-Publikation erscheint, in diesem Jahr den Herausforderungen mit Blick auf die Sicherstellung. In 18 Fachbeiträgen wird diskutiert, was sich in den letzten Jahren verändert hat und welche Lösungsansätze noch fehlen, um die Pflege auch zukünftig gestalten zu können.
Inhaltsverzeichnis
TEIL I Versorgungsstrukturen und deren Steuerung
Pflegeprävalenzen und Inanspruchnahme in der räumlichen Verortung
Susann Behrendt, Chrysanthi Tsiasioti und Antje SchwingerDer demographische Wandel potenziert die Herausforderungen, Pflegebedürftige auf hohem Niveau angemessen zu versorgen, beträchtlich und damit auch die Bedeutung einer umfassenden, systematischen regionalen Pflegeinfrastrukturplanung. Bisher erfolgt diese Planung und deren Umsetzung regional sehr heterogen. Kritik erntet hierbei die mit Einführung der Pflegeversicherung entstandene Aufgaben- und Befugnisdiffusion zwischen Pflegekassen, Ländern und Kommunen. Gefordert wird stattdessen eine verbesserte gemeinsame infrastrukturelle Sicherstellungsplanung. Die Bereitstellung strukturell planungsrelevanter Informationen kann dabei als empirische Planungsgrundlage für die Kommune dienen und so durch regionale Transparenz maßgeblich die Pflegeinfrastrukturplanung in ihren Zielen unterstützen.
Der Beitrag beleuchtet Potenzial und Limitationen von Abrechnungsinformationen der Kranken- und Pflegekassen für die kommunale Pflegestrukturplanung. Auf Basis der AOK-Routinedaten zeigt die hier zentrale Analyse regionale Pflegeprävalenzen und deren Entwicklung. Basierend auf der These, dass Veränderungen und regionale Varianz der Inanspruchnahme vielfältige Ursachen haben und nicht allein durch die demographische Entwicklung bedingt sind, geht er exemplarisch weiteren assoziierten Faktoren nach. Im Ergebnis einer Regressionsanalyse zeigen sich Pflegeschwere und Demenz, das Vorhandensein einer Pflegeperson und raumstrukturelle Aspekte als relevante Faktoren bei der Erklärung der Varianz. Unter Anerkennung der im Beitrag genannten Limitationen von Routinedaten besitzen diese bürokratiearm und regelhaft verfügbaren Versorgungsinformationen gleichwohl einen deutlichen Nutzen für eine regionale Pflegestrukturplanung. Forschungsbedarf besteht mit Blick darauf, ob und wie aufgrund der engen lebensweltlichen Verflechtung von Pflege eine empirisch-normative Bedarfsbemessung – denn schlussendlich bedarf es einer solchen für die Planung – erreicht werden kann.
Caring Communities: Vision und Handlungsbedarfe
Irmelind KirchnerDer demographische Wandel bringt gerade für den Bereich der Pflege große Herausforderungen mit sich. Die geburtenstarke Generation der Babyboomer wird auch mit dem Älterwerden die Gesellschaft stark beeinflussen: einerseits wird ihr Ausscheiden aus dem regulären Arbeitsleben das Angebot an Arbeitskräften verringern, andererseits birgt sie ein hohes Potenzial an Gestaltungskraft und Engagement für die Gestaltung des Lebens vor Ort, einschließlich der Übernahme von Sorge- und Pflegeaufgaben. Ein funktionierendes Zusammenspiel aller Beteiligten mit aktiver Einbindung der Bürgerinnen und Bürger bei Fragen von Unterstützung und Pflege wird als Verwirklichung von „Caring Community“ bezeichnet. Die Verbesserung der Organisation von Teilhabe, Unterstützung und Pflege vor Ort steht schon länger im Fokus der fachpolitischen Diskussion. Wesentlich ist eine Stärkung der Rolle der Kommunen, wobei der Blick weiter gefasst werden muss, als nur dort anzusetzen, wo Leistungen der Pflegeversicherung greifen. Die Rahmenbedingungen für die Aufgaben und Verantwortung der Kommunen werden durch die Landesgesetzgebung mehr beeinflusst als durch die Bundesgesetzgebung. Der Beitrag zeigt die erheblichen Unterschiede zwischen den Bundesländern in der Ausgestaltung der Pflegeinfrastrukturplanung auf. Es werden Überlegungen angestellt, wie durch Verzahnung einer verpflichtenden kommunalen Pflegeinfrastrukturplanung mit den Zulassungsvoraussetzungen der Pflegeversicherung eine bessere Steuerung vor Ort und ein Aufbau von unterstützenden Strukturen erzielt werden kann. Es werden Hinweise für die Quartiersentwicklung in Verbindung mit einer integrierten Sozialplanung gegeben und die Möglichkeiten des freiwilligen Engagements und seine Unterstützung in den Blick genommen
Pflegestrukturplanung in Bayern – Eine landesweite Initiative zur Unterstützung der Kommunen bei der Bedarfsermittlung und Planung in der Langzeitpflege
Aiske Ihnken, Julia Lenhart, Valerie Leukert, Julia Meier, Sabrina Übel und Annette WeißDie bedarfsgerechte Versorgung von Pflegebedürftigen ist schon heute eine bedeutsame gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die auch durch den demographischen Wandel in Zukunft immer anspruchsvoller wird. Um dieser Herausforderung mit einer fundierten Planung der pflegerischen Versorgungsstruktur begegnen zu können, bedarf es befähigte Sozialplanende in den Kommunen sowie Daten zur aktuellen und zukünftigen Pflegestruktur, die zuverlässig, qualitativ hochwertig und unabhängig sind. Diese Voraussetzungen für eine gelingende Pflegestrukturplanung sollen durch das Kooperationsprojekt „Pflegestrukturplanung“ des Bayerischen Landesamts für Pflege und des Bayerischen Landesamts für Statistik geschaffen werden. Im Fokus des Projekts stehen die bayerischen Sozialplanenden. Diese sollen bestmöglich bei der wichtigen Aufgabe der Pflegestrukturplanung durch die zukünftig bereitgestellte Datenbasis des Bayerischen Landesamts für Statistik sowie Vernetzungsangebote des Bayerischen Landesamts für Pflege unterstützt werden. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über Entstehung, Organisation und Umsetzung des Projekts. Dabei werden neben den gesetzlichen Grundlagen auch die konkreten Projektschritte und bisherige Arbeitsergebnisse, wie die bayerische Handlungsleitlinie zur Pflegebedarfsermittlung vorgestellt, aber auch Herausforderungen des Projekts aufgezeigt.
Sicherstellung der ambulanten pflegerischen Versorgung – Steuerungsoptionen der Pflegekassen und Kommunen
Thomas Klie und Andreas BüscherDie im Pflegeversicherungsgesetz betonte gemeinsame Verantwortung unterschiedlicher Akteure für die pflegerische Versorgung hat viele Facetten. Zentral ist der den Pflegekassen zugeordnete Sicherstellungsauftrag, der in seiner rechtlichen Ausgestaltung in diesem Beitrag problematisiert wird. Die Steuerungsoptionen der Kommunen und Pflegekassen sind limitiert, aber dennoch vorhanden, wie die großen Unterschiede der Versorgungswirklichkeiten auf regionaler Ebene deutlich machen. Plädiert wird in dem Beitrag für eine stärkere Berücksichtigung lokaler und kommunaler Bedarfe und Handlungsoptionen zur Sicherstellung der pflegerischen Versorgung. Dazu bestehende Erfahrungen aus dem Modell der Sozialstationen werden reflektiert und für die Entwicklung von zukünftigen Perspektiven herangezogen.
Neue Wohnformen in der Langzeitpflege – Entwicklung und Berücksichtigung im SGB XI
Martin SchölkopfGesellschaft und Politik halten seit längerem nach Wohn- und Versorgungsformen für pflegebedürftige Menschen Ausschau, die Selbstbestimmung und Autonomie einerseits und Versorgungssicherheit andererseits miteinander vereinbaren können – und das nicht nur bei beginnender Pflegebedürftigkeit, sondern auch bei zunehmendem Versorgungsbedarf. Dies hat in den letzten Jahren auch zu vermehrter gesetzgeberischer Aktivität geführt. Der vorliegende Beitrag geht vor diesem Hintergrund der Frage nach, welche Potenziale neue Wohnund Versorgungsangebote zwischen der Versorgung zu Hause und im Heim haben, welche Maßnahmen der Gesetzgeber hier bereits auf den Weg gebracht hat und welche Möglichkeiten es geben könnte, im Recht des SGB XI weitere Impulse zu setzen, um solche Angebote
zu fördern.
Die Ankunft der Babyboomer: Was tun mit der „24-Stunden-Pflege“?
Simone LeiberVor dem Hintergrund der Ankunft der Babyboomer wird in diesem Beitrag argumentiert, dass das Phänomen der sogenannten „24-Stunden-Pflege“ auch bei einem weiteren Ausbau anderer Versorgungsformen in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen wird. Es besteht daher staatlicher Handlungs- und Regulierungsbedarf
in diesem Feld. Der Beitrag gibt zunächst einen Überblick über zentrale Forschungsbefunde zur Live-in-Pflege in Deutschland. Diese unterstreichen, dass Familien und Arbeitskräfte in einem Markt, der durch hohe Rechtsunsicherheit und missbräuchliche Praktiken gekennzeichnet ist, nicht allein gelassen werden sollten. Es werden
vier Handlungsoptionen für die Zukunft aufgezeigt und empfohlen, Live-in-Arrangements ausschließlich im Angestelltenverhältnis weiterzudenken.
Prävention in der Pflege gestalten: Pflegebedürftigkeit vermindern, Selbstständigkeit erhalten
Adelheid Kuhlmey und Andrea BudnickDer Beitrag befasst sich mit dem längeren Erhalt der Selbstständigkeit im Alter durch Prävention und mit den Möglichkeiten der Verringerung der Lebenszeit mit Pflegebedürftigkeit. Ausgangspunkt sind die Prognosen zur Steigerung der Zahl der Menschen mit Pflegebedarf angesichts des Alterns der Generation der Babyboomer, bei gleichzeitigem Ausscheiden dieser Generation aus dem Arbeitsleben und damit auch aus der Pflege. Ziel präventiver Interventionen ist die Maximierung von Gewinnen und die Minimierung von Gesundheitsverlusten im Lebensverlauf. Für einen solchen Ansatz auch noch in den höheren und hohen Lebensjahren sprechen Befunde, die positive Effekte auf den Erhalt der Selbstständigkeit z.B. durch gezieltes Training körperlicher Mobilität und geistiger Leistungsfähigkeit, durch soziale Teilhabe und Vermeidung von Einsamkeit oder durch eine gesunde Ernährung nachwiesen. Trotz dieser Befundlage ist das Pflegesystem nahezu exklusiv auf die Versorgung von Defiziten bei alten Menschen ausgerichtet. Benötigt wird ein Paradigmenwechsel hin zur Stärkung der vorhandenen physischen, psychischen und sozialen Ressourcen altwerdender Menschen - auch bei bereits eingeschränkter Gesundheit und Pflegebedürftigkeit.
Die Versorgung in der eigenen häuslichen Umgebung ist für viele pflegebedürftige Menschen von großer Bedeutung. Neben Angehörigen spielen ambulante Pflegedienste eine zunehmend wichtige Rolle für die Gewährleistung der häuslichen Versorgung. Ein Viertel der zu Hause betreuten pflegebedürftigen Menschen wird gemeinsam mit oder vollständig durch einen ambulanten Pflegedienst versorgt. Die Themen Qualität und Qualitätsentwicklung und -sicherung der ambulanten pflegerischen Versorgung sind daher zunehmend Gegenstand pflegefachlicher und politischer Diskussionen. Eine Möglichkeit zur Messung von Versorgungsqualität ist die Nutzung von Routinedaten von Kranken- bzw. Pflegekassen. Für die stationäre Langzeitpflege liegen bereits Ansätze für die Qualitätsmessung mittels Routinedaten vor. Für die ambulante Pflege gibt es diesbezüglich noch keine Überlegungen. Im Rahmen einer Forschungsarbeit wurde nun die generelle Nutzbarkeit von Routinedaten auch für ambulante Pflege untersucht. Im Ergebnis zeigt sich, dass eine Reihe von qualitätsrelevanten Versorgungsaspekten in der ambulanten Pflege anhand von Routinedaten operationalisierbar ist. Die Mehrzahl der identifizierten Versorgungsaspekte ist jedoch nicht über Routinedaten abbildbar. Hierfür wären, vor allem für den Regelungsbereich des SGB XI, grundlegende Anpassungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen erforderlich
TEIL II Arbeitsbedingungen und Weiterentwicklung des Pflegeberufs
Indikatoren guter Arbeitsplätze in der Pflege
Grit BraesekeAngesichts zunehmender Engpässe auf dem Arbeitsmarkt für Pflegekräfte stellt sich die Frage, welche Maßnahmen Pflegeeinrichtungen ergreifen sollten, um, auch im Vergleich zu anderen Branchen, attraktive Arbeitsplätze anzubieten mit dem Ziel, Pflegekräfte zu motivieren, im Beruf zu bleiben, und diesen auch bis zu Rente ausüben zu können. Im Beitrag werden zunächst die vielfältigen Einflussfaktoren von Arbeitgeberattraktivität erläutert. Anschließend werden die Indikatoren, die für Pflegekräfte bei der Beurteilung ihrer Arbeitsplätze besonders wichtig sind, vorgestellt. Es folgt eine kurze Darstellung der Ergebnisse und Schlussfolgerungen der Erprobung der Indikatoren, die im Rahmen der „Studie zur Arbeitsplatzsituation in der Akut‐ und Langzeitpflege und Ermittlung sowie modellhafte Implementierung von Indikatoren für gute Arbeitsbedingungen in der Langzeitpflege, Los 2“ im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit durchgeführt wurde.
Pflege braucht Pflege: Wie betriebliche Gesundheitsförderung dem Fachkräftemangel entgegenwirken kann
Thomas Lennefer, Matthias Drupp, Werner Mall, Dirk Lehr und Antje DuckiDer Fachkräftemangel in der Pflegebranche stellt eine zunehmend größere Herausforderung dar, die innovative Lösungen erfordert. Um dieser Herausforderung zu begegnen, bietet sich die betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) als vielversprechender Ansatz an. BGF hat das Ziel, gesundheitsrelevante Belastungen zu reduzieren und Ressourcen zu stärken, indem systematisch Maßnahmen zur Verbesserung des Arbeitsumfelds und des Gesundheitsverhaltens der Mitarbeitenden umgesetzt werden.
Ein Beispiel für eine solche Unterstützung ist das Care4Care-Projekt, das Pflegeeinrichtungen ermöglicht, eine systematische, gesundheitsfördernde Organisationsentwicklung durchzuführen. Das Programm umfasst eine Vielzahl von Analyseinstrumenten sowie digitale und Präsenzangebote zu verschiedenen Themen, wie beispielsweise dem Umgang mit Schlafproblemen im Schichtdienst, der Organisationskultur und gesunder Führung.
Im Rahmen einer cluster-randomisierten Studie wurde die Wirksamkeit des Care4Care-Programms untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass Care4Care das Klima für mentale Gesundheit verbessert und den wahrgenommenen Stress der Pflegekräfte reduziert. Zusätzlich verdeutlichen Praxisbeispiele, welche Faktoren für die erfolgreiche Umsetzung eines BGF-Angebots mit hohem digitalem Anteil, wie dem Care4Care-Projekt, entscheidend sind.
Zukünftige Studien sollten dennoch neben der Wirksamkeitsüberprüfung auch das Nutzungsverhalten in den Fokus nehmen. Dies ist notwendig, um eine größere Durchdringung in den Einrichtungen zu erreichen und dem Fachkräftemangel durch nachhaltige BGF-Aktivitäten entgegenzuwirken.
Weiterentwicklung des Pflegeberufs: Chancen und Risiken der Akademisierung der Pflege/Heilkundeübernahme/Rolle der Pflege in neuen Versorgungstrukturen mit Blick auf die Sicherstellung der Versorgung
Sandra Stube-Lahmann, Steffen Dißmann und Christine VoglerDie Akademisierung des Pflegeberufs begann in den 1990er Jahren und dauert bis heute an. Dabei soll den zunehmenden Anforderungen und Herausforderungen an die Profession Pflege auch mit dem Vorantreiben der Akademisierung begegnet werden. Gesetzesreformen und -initiativen schaffen hierfür eine verbindliche Grundlage. So konnten durch das Pflegeberufegesetz sowie dem Pflegestudiumstärkungsgesetz (PflStudStG) inhaltlich, strukturell und finanziell attraktivere Studienbedingungen geschaffen werden. Durch das Pflegekompetenzgesetz soll darüber hinaus eine Grundlage für den Kompetenzzuwachs von Pflegefachpersonen geschaffen werden. Von besonderem Interesse sind dabei die Qualifikationen der Advanced Nurse Practitioner (ANP) und Community Health Nurse (CHN). Diese professionellen Berufsrollen könnten einen wesentlichen Beitrag zur eigenständigen Profilentwicklung, der Emanzipation des Pflegeberufs und somit der Weiterentwicklung der Profession Pflege insgesamt leisten. Für die pflegebedürftigen Menschen und deren An- und Zugehörige lassen diese Entwicklungen einen positiven Einfluss auf die Versorgungsqualität und Patientensicherheit erwarten.
Flächendeckend „tarifgerecht“? Befunde und Implikationen der Neuregelungen zur „tarifgerechten Entlohnung“
Julia Lenzen und Michaela Evans-BorchersIm Mittelpunkt des Beitrags stehen ausgewählte Befunde einer Wirkungsanalyse der gesetzlichen Neuregelungen zur tarifgerechten Entlohnung in der Altenpflege für das Bundesland NRW. Die Befunde plausibilisieren Lohnsteigerungen für Beschäftigte in Pflegeeinrichtungen und -dienste, die vor den gesetzlichen Neuregelungen weder tarifgebunden waren noch eine kollektivvertragliche Regelung für die Entlohnung ihrer Beschäftigten anwendeten. Insbesondere höherpreise kollektivvertragliche Regelungen prägen die Option der Tariforientierung, die in NRW häufiger als in anderen Bundesländern gewählt wurde. Im Ländervergleich zeichnen sich angesichts der Wahloptionen jedoch unterschiedliche Entwicklungspfade ab. Der Pflegemindestlohn induziert Tariflohnsteigerungen, die sich wiederrum auf das regional übliche Entlohnungsniveau auswirken. Nicht nur Kostensteigerungen, sondern auch Grenzen der gesetzlichen Neuregelungen werden mit Blick auf die Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs erkennbar.
Zuwanderung und Anwerbung internationaler Pflegefachkräfte
Lisa PepplerAufgrund des eklatanten Fachkräftemangels in der Pflege forciert Deutschland die Zuwanderung internationaler Pflegefachkräfte und intensiviert die Bemühungen um Anwerbung für den Arbeitsmarkt. Die Vereinfachung rechtlicher Rahmenbedingungen durch das Anerkennungsgesetz (2012) und das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (2020/2023) – und die damit verbundene Zunahme internationaler Pflegefachkräfte in der Versorgung – führen allerdings dazu, dass die Einrichtungen und die Pflegekräfte gefordert sind. Im Versorgungsalltag rücken variierende Pflegeverständnisse mit unterschiedlichen Erwartungen an pflegerische Tätigkeitsprofile und Verantwortungsbereiche in den Fokus, die von den Beteiligten adressiert und bearbeitet werden müssen. Vor dem Hintergrund der derzeitigen tiefgreifenden Veränderungsprozesse in der deutschen Pflege führt dies wiederum zu verstärkten Aushandlungen hinsichtlich des Pflegeverständnisses. Letztlich besitzt die Zuwanderung internationaler Pflegefachkräfte nicht nur eine quantitative Relevanz, sondern auch eine qualitative – nämlich hinsichtlich der Chance, den Pflegeberuf wieder attraktiver und international anschlussfähig zu machen.
Digitalisierung in der Pflege
Nils Lahmann, Martin Hocquel-Hans und Sandra Strube-LahmannDie Digitalisierung verändert zunehmend den Pflegesektor und verspricht, sowohl die Versorgungsqualität als auch die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Dieser Artikel gibt einen Überblick über aktuelle digitale Technologien in der Pflege und ihre Auswirkungen auf Pflegeprozesse. Betrachtet werden Sensorik und digitale Systeme zur Erfassung von Vitalparametern Aktivitäten und Sturzereignissen, Virtual und Augmented Reality für die Therapie und Ausbildung, Robotik und Exoskelette zur physischen Unterstützung sowie Künstliche Intelligenz zur Spracherkennung und Anwenderinteraktion. Die vorgestellten Technologien können zu einer individualisierten und bedarfsgerechten Versorgung beitragen und darüber hinaus einen Beitrag zur Entlastung des Pflegepersonals leisten. Gleichzeitig erfordern sie neue Kompetenzen von Pflegefachpersonen und eine Anpassung bestehender Prozesse, um die Potenziale der digitalen Transformation voll auszuschöpfen.
Teil III Situation pflegender An- und Zugehöriger
Die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf: Stand und Handlungsempfehlungen
Tanja Kavur und Adelheid KuhlmeyEin wachsender Anteil der Bevölkerung in Deutschland ist 65 Jahre oder älter. Dieser Trend wird durch die zunehmende Alterung der geburtenstarken Jahrgänge aus den 1950er und 1960er Jahren, die sogenannten Babyboomer, zunehmen. Damit steigt auch die Zahl der Menschen, die eine Zeit in ihrem Leben auf Pflege und Unterstützung angewiesen sein werden. Der überwiegende Teil der Pflegebedürftigen wird dabei nicht etwa in Pflegheimen, sondern vielmehr in der eigenen Häuslichkeit versorgt. Zumeist von (weiblichen) Angehörigen, die häufig erwerbstätig sind. Die Versorgung und Betreuung der Pflegebedürftigen nehmen dabei viel Zeit, Kraft und Geld in Anspruch, da beides neben der Erwerbstätigkeit geleistet wird. Der unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf setzt sich seit 2015 mit dem Thema intensiv auseinander. Er begleitet die Umsetzung und Weiterentwicklung der gesetzlichen Regelungen und gibt konkrete Handlungsempfehlungen. Der Beirat sieht in dem Bereich dringenden Handlungsbedarf. Daher hat er in seinem letzten Bericht ein konkretes Modell zur Familienpflegezeit und zum Familienpflegegeld erarbeitet, eine steuerfinanzierte Lohnersatzleistung. Auch der Ausbau der professionellen Pflegeinfrastruktur ist flächendeckend voranzutreiben. Zudem müssen die gesetzlichen Maßnahmen sehr viel besser an besonders vulnerable Gruppen, wie die der Kinder oder Jugendlichen und deren Angehörige, angepasst werden. Die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf muss künftig besser gelingen, nicht zuletzt auch deshalb, weil angesichts eines massiv abnehmenden Erwerbsbevölkerungspotentials in Deutschland die erwerbstätigen Angehörigen sowohl in der häuslichen Pflege als auch in der Arbeitswelt dringend benötigt werden.
Gender Care Gap: Situation, Ursachen und Maßnahmen zur Verringerung
Andrea BudnickDie Mehrheit aller pflegebedürftigen Menschen in Deutschland wird nach wie vor von weiblichen An- und/oder Zugehörigen in der Häuslichkeit versorgt. Die Motivation zur Übernahme dieser Tätigkeit ist vielfältig, wobei emotionale Zuneigung, persönlich-moralische sowie soziale Verpflichtung am häufigsten genannt werden. Nicht nur die individuelle Motivation, sondern auch kontextuelle, wohlfahrtsstaatliche und kulturelle Faktoren beeinflussen die Entscheidung für oder gegen die häusliche Pflegeübernahme und münden im Gender Care Gap. Der Gender Care Gap, der Unterschied in der Übernahme häuslicher Pflege zwischen Männern und Frauen, variiert stark innerhalb Europas. Gleich ist in allen Ländern, dass mehr Frauen als Männer häusliche Pflege übernehmen. Die Schweiz und Schweden sind Länder mit geringer Ausprägung des Gender Care Gaps, während in Luxemburg, Griechenland und Kroatien dieser am höchsten ist. Deutschland liegt im Mittelfeld europäischer Länder, d.h. der Anteil der pflegenden Frauen ist etwas mehr als doppelt so hoch wie der der Männer. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass in Ländern, in denen die Ausgaben für Langzeitpflege höher sind, der Gender Care Gap geringer ist. Ebenso zeigt sich, dass in Ländern mit relativ geringer Lücke bei der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Männern der Gender Care Gap ebenfalls vergleichsweise geringer ausgeprägt ist.
Wohnen mit Pflegebedürftigkeit: Ergebnisse zur Wohnsituation aus der ZQP-Befragung pflegender Angehöriger, Handlungsbedarf und Lösungsansätze
Simon Eggert, Ralf Suhr und Christian TeubnerWie lange ältere Menschen mit Pflegebedarf ihr Leben außerhalb stationärer Langezeitpflegeeinrichtungen führen können, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Eine Rolle spielt dabei die Beschaffenheit des Wohnraums und dessen Barrierestatus. Denn entsprechende Barrieren sind unter anderem mit verschiedenen
gesundheitlichen Risiken, auch Risiken für die Pflegesicherheit, verbunden und können die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe mindern. In einer durch das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) durchgeführten Studie gibt in etwa die Hälfte der pflegenden Angehörigen an, die pflegebedürftigen Personen lebten in Wohnungen mit „einigen“, „vielen“ oder „sehr vielen“ Barrieren. Über denWohnraum hinaus werden auch die Gestaltung des Wohnumfelds und infrastrukturelle Merkmale für pflegegerechten Wohnraum von vielen der befragten Angehörigen kritisch eingeschätzt. Sowohl der Barrierestatus des Wohnraums als auch das Wohnumfeld weisen einen signifikanten Zusammenhang auf mit der Einschätzung, ob die Wohnung geeignet ist für die Teilnahme am sozialen Leben. Die Studie unterstützt mit ihren Ergebnissen den Blick auf die präventive Bedeutung von pflegegerechtem Wohnraum und einem entsprechenden Wohnumfeld.
Pflegegeld und privat organisierte Pflegearrangements
Andreas Büscher und Thomas KlieObwohl das Pflegegeld empirisch die dominante Leistungsform der deutschen Pflegeversicherung ist, ist die Forschungslage zur Verwendung, zu den Wirkungen und Nutzung des Pflegegeldes bislang wenig belastbar. Das gilt auch für die Wirklichkeit selbstorganisierter häuslicher Pflegearrangements. In diesem Beitrag werden auf der Basis einer nationalen und internationalen Literaturrecherche, der Auswertung aktueller empirischer Befunde zu den Einstellungen der Bevölkerung, den Erfahrungen der Nutzerinnen und Nutzer und der dem Pflegegeld beigemessenen Bedeutung verfügbare Forschungen und Daten ausgewertet und aufbereitet. Darüber hinaus konnten durch eine GKV- und SPV-Routinedatenauswertung des WIdO ein vergleichsweise tiefenscharfes Bild über die leistungsrechtlichen Kontexte der Nutzung des Pflegegeldes, aber auch bei Einbeziehung ambulanter Dienste in häusliche Pflegearrangements gezeichnet werden. Der Beitrag mündet in der Identifizierung von Forschungsdesideraten einerseits und politischem Handlungsbedarf andererseits.
Bürgerschaftliches Engagement in der pflegebezogenen Selbsthilfe: aktueller Stand und Weiterentwicklungsbedarfe
Anja SchödwellIm Zuge der Alterung der Gesellschaft steigt die Lebenserwartung und damit auch die Anzahl der pflegebedürftigen Menschen kontinuierlich, während die Geburtenraten sinken. Dies führt zu einer geringeren Anzahl von Arbeitskräften, welche die wirtschaftliche und soziale Unterstützung der älteren Generationen gewährleisten müssen. Der doppelte demografische Wandel potenziert den Mangel an Pflegefachkräften und bedroht die Sicherstellung der Versorgung pflegebedürftiger Menschen. In dieser Situation gewinnt die Rolle der pflegenden Angehörigen an erheblicher gesellschaftlicher und politischer Bedeutung. Abhängig von Dauer und Intensität der Pflege stoßen sie an ihre Belastungsgrenzen. Pflegende Angehörige können ihre Lebensqualität und Gesundheit durch Entlastungsleistungen stärken. Die gemeinschaftliche Selbsthilfe als Form des bürgerschaftlichen Engagements bietet ihnen und auch pflegebedürftigen Menschen eine Möglichkeit, sich in Selbsthilfegruppen mit anderen Betroffenen auszutauschen und die Herausforderungen in der Pflegesituation besser zu bewältigen. Die Wirkungen der Pflegeselbsthilfe hat der Gesetzgeber erkannt und eine finanzielle Förderung durch die Pflegeversicherung eingeführt. Der vorliegende Beitrag beschreibt die Umsetzung der pflegebezogenen Selbsthilfeförderung gemäß § 45d SGB XI und macht einen erheblichen Nachholbedarf im Abruf der Fördermittel durch die Länder und Kommunen deutlich. Der Beitrag soll einen Anstoß zur Diskussion über Weiterentwicklungsbedarfe dieser Fördermöglichkeit geben und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen.
Teil IV Daten und Analysen
Pflegebedürftigkeit in Deutschland
Sören Matzk, Chrysanthi Tsiasioti, Susann Behrendt, Kathrin Jürchott, Felipe Argüello Guerra und Antje SchwingerDer Beitrag liefert ein ausführliches Bild zum Stand der Pflegebedürftigkeit und der gesundheitlichen Versorgung der Pflegebedürftigen in Deutschland. Die Analysen basieren auf GKV-standardisierten AOK-Daten. Sie zeigen Prävalenz, Verläufe und Versorgungsformen der Pflege sowie Kennzahlen zur gesundheitlichen Versorgung der Pflegebedürftigen. Im Fokus stehen die Inanspruchnahme von ärztlichen und stationären Leistungen, Polymedikation und Verordnungen von PRISCUS-Wirkstoffen und Psychopharmaka. Die Ergebnisse werden der Versorgung der Nicht-Pflegebedürftigen gleichen Alters gegenübergestellt und differenziert nach Schwere der Pflegebedürftigkeit und Versorgungssetting ausgewiesen.